Ausblick – Unruhige Zeiten voraus

Auszug aus Mandantenbrief 3/2022

 

„Eine Energiekrise wäre ökonomisch schlimmer als die Finanzkrise 2008. Geld kann man drucken, Gas nicht.“

sentix

„Dies ist eines der komplexesten, wenn sogar das komplexeste und dynamischste Umfeld, das ich in meiner Karriere je erlebt habe.“

John Waldron, COO Goldman Sachs

Nach den hohen Kursverlusten von über – 20 % seit den vorherigen Höchstständen an den meisten Börsen der westlichen Welt steht fest, dass wir uns mittlerweile in einem typischen Bärenmarkt befinden.

Robert J. Shiller hat für die USA anhand Daten seit 1903 berechnet, dass der durchschnittliche Bärenmarkt rund 16 Monate dauerte. Gemeinhin wird der Beginn des aktuellen Bärenmarktes rückblickend im November 2021 gesehen. Danach ist der aktuelle Bärenmarkt zur Zeit erst etwa 9 Monate alt. Danach hätten wir auf der Zeitachse erst etwa die Hälfte der Strecke zurückgelegt. Historisch zeigt sich aber, dass die Länge eines Bärenmarktes stark variieren kann – von drei Monaten 1987 bis zu 2,8 Jahren von 1929 bis 1932. Insofern ist diese Information nur begrenzt aussagekräftig. Positiv sei aus dieser Untersuchung aber hervorzuheben, dass Bullenmärkte typischerweise mit durchschnittlich 79 Monaten etwa fünf mal so lang wie Bärenmärkte dauern.

Die Variationsbreite der Dauer eines Bärenmarktes gibt uns aber einen anderen Hinweis, was möglicherweise (noch) entscheidend sein könnte. Erlebt die Wirtschaft keine oder nur eine sehr milde Rezession wie 1987, dann scheinen Bärenmärkte eher von kurzer Dauer zu sein. Sind hingegen die Probleme tiefgreifender Natur, was auch zu einem tendenziell größeren Rückgang der Unternehmensgewinne führt, dann dauern die Bärenmärkte eher länger als ein Jahr an.

Aktuell ist es noch nicht ausgemacht, dass die Wirtschaft in den USA und Europa in eine Rezession abgleitet, aber die Anzeichen verdichten sich. Sollte eine Rezession ausbleiben, dürften wir an den Aktienmärkten tatsächlich schon relativ nah an den Tiefstständen sein bzw. vielleicht liegen diese sogar bereits hinter uns. Eine Reihe von Indikatoren – z. B. Inversion der Zinskurven in den USA, sentix Frühindikatoren – sprechen aber eher dafür, dass sich ein Abgleiten in eine Rezession nicht mehr vermeiden lässt. Dabei ist die aktuelle Energiekrise nur einer von mehreren Risikofaktoren, von denen wir nachfolgend einige kurz darstellen. Jeder einzelne hat bereits das Potenzial, weitere Schockwellen über die Kapitalmärkte zu senden.

  • Energiekrise: Die Parallelen zu 2008 sind nicht zu verdecken. Mussten damals Banken mit Milliardenbeträgen gerettet werden, gilt dieses nun für Versorger. Uniper benötigt rund 9 Milliarden Euro Hilfsgelder, in Frankreich braucht EDF etwa 10 Milliarden Euro. Zudem werden Bürger über Rettungspakete oder Subventionen in ganz Europa entlastet. Der Energie-Bailout in Europa erreicht bereits 100 Milliarden Euro. Sollten Regierungen einen großen Versorger insolvent gehen lassen, könnte es wieder zu einem Lehman-Moment kommen.
  • Zinsschock: Der rasante Zinsanstieg dürfte noch zu einigen Problemen und Verwerfungen führen, die aktuell noch nicht sichtbar sind. Dies lehren die Erfahrungen der Vergangenheit. Die weltweite Verschuldung (Staat, Unternehmen und private Haushalte) hat zuletzt 355 % des globalen BIP erreicht. Das Magazin der „Economist“ schätzt, dass ein Zinsanstieg von 2 Prozentpunkten die weltweite Zinsbelastung um 50 % erhöhen würde auf immerhin 18 % des Welt-BIP. Für Daniel Stelter – Buchautor und Unternehmensberater – ist kaum vorstellbar, dass dies ohne Schuldenkrisen, einem Kollaps an den Vermögensmärkten oder eine tiefe Rezession vonstatten ginge.
  • Zinsschock II: Vermutlich geraten auch Immobilienwerte aufgrund der gestiegenen Zinsen unter Druck. Wenn die Immobilienpreise um 10 % fallen, bedeutet dies laut Stelter einen Vermögensverlust von 30 Billionen US-Dollar, was einem Drittel des Welt-BIP entspricht. Dies dürfte nicht nur den Konsum bremsen, sondern könnte auch (weiteren) Stress ins Finanzsystem tragen.
  • Als Folge der starken US-Zinserhöhungen stehen der japanische Yen und der Euro aktuell stark unter Druck. Beim Yen laufen Spekulationen gegen die Fähigkeit der Zentralbank die Zinskurvenkontrolle aufrecht zu halten. Beim Euro laufen die Anleihenspreads der Mitgliedsländer auseinander und am Horizont erscheint bereits wieder das Gespenst einer Eurokrise.
  • Der US-Aktienmarkt hat vom Allzeithoch bis zum bisherigen Verlaufstief etwas mehr als 12 Billionen US-Dollar Marktkapitalisierung verloren. Dies ist etwa 50 % der Wirtschaftsleistung und wird vermutlich auch wirtschaftliche Auswirkungen haben.

Der typische Verlauf eines Bärenmarkts spricht eher dafür, dass wir das Tief noch nicht gesehen haben und uns noch ein finaler Abverkauf bevorsteht. Als Faustformel gilt, dass Bärenmärkte zunächst über einen längeren Zeitraum – etwa zwei Drittel der zeitlichen Ausdehnung der Marktkorrektur – eher langsam fallen. Im letzten Drittel der Korrektur kommt es dann noch einmal zu einem regelrechten Ausverkauf, der vom Umfang die bisherigen Verluste meist noch übertrifft.

Bisher haben viele Anleger trotz schlechter Stimmung noch an ihren Positionen festgehalten. Ein echter Sellout bei hohen Umsätzen war noch nicht zu beobachten. Typischerweise steigt hierfür die Volatilität deutlich an und erreicht Werte im Bereich von 50 und mehr beim VDAX (bezogen auf den DAX), bevor es zur Trendwende kommt. Aktuell liegt der VDAX erst bei knapp über 30.

Ein weiteres Indiz für eine erfolgreiche Bodenbildung ist, dass die Protagonisten, die mit der vorangegangenen Börsenrallye Bekanntheit erlangt haben, kapitulieren und nicht mehr alle paar Wochen den Boden ausrufen. Bisher ist dies bei Namen wie Cathie Wood oder Michael Saylor noch der Fall.

Des Weiteren beträgt der durchschnittliche Kursrückgang in einem Bärenmarkt etwa – 38 % bezogen auf den S&P 500. Per Ende Juni lag das Minus beim S&P 500 erst bei etwa – 20 %. Die bereits in den Medien genannten „Kursziele“ von einigen Fondsmanagern und Analysten von etwa 10.000 Punkten beim DAX und 3.100 Punkten beim S&P 500 würden relativ gut dem durchschnittlichen Kursrückgang in einem Bärenmarkt entsprechen.

Prädestiniert für eine solche Entwicklung wäre saisonal das 3. Quartal. Anschließend könnte dann im 4. Quartal eine Erholung einsetzen. Eine Bedingung hierfür in Hochinflationsphasen wäre, dass die Zinsen wieder sinken oder eine Zinssenkung erwartet wird. Aktuell ist dies noch nicht der Fall. Aber im Herbst, wenn offenkundig wird, dass die US-Wirtschaft in einer Rezession ist bzw. kurz davorsteht und die Notenbank für zu schnelle Zinserhöhungen verantwortlich gemacht wird, könnte diese Voraussetzung erfüllt sein.

Sollte hingegen die Berichterstattung der Unternehmen zum 2. Quartal positiv überraschen, die Risiken für eine Energiekrise in Europa deutlich abnehmen und die Inflation positiv überraschen, sodass sich die Notenbanken konzilianter zeigen können, wäre es gut möglich, dass die Börsen im 2. Halbjahr einen großen Teil ihrer Verluste aufholen, ohne dass es zuvor noch einmal zu einem deutlichen Rücksetzer kommt. So schön dieses Szenario wäre, aktuell scheint es eher die unwahrscheinlichere Variante zu sein.

Wenn wir über das Jahr 2022 hinausschauen, welche Perspektiven bieten sich dann nach dem Ende des Bärenmarktes? Erwartet uns wieder ein Bullenmarkt wie nach dem ersten Corona-Schock im Frühjahr 2020?

Das wäre schön, aber vermutlich ist die Börsenwelt nicht ganz so einfach. Vieles deutet daraufhin, dass wir es mit einem strukturellen Bruch zu tun haben. Der bisherige seit 2009 existente Bullenmarkt dürfte zu Ende sein und eine mehrjährige, volatile Stagnationsphase mit mehreren, kürzeren Bullen- und Bärenmärkten vor uns liegen. Ein Muster, welches sich in der Börsengeschichte immer wieder wiederholt. Nach langen Boomphasen (z. B. Ausbau der Eisenbahn nach dem US-Bürgerkrieg, die Roaring Twenties, oder der Wirtschaftsboom nach dem 2. Weltkrieg) folgt meist eine Phase der Stagnation. Der Aktienmarkt hat die vorherige Entwicklung überschätzt bzw. übertrieben und dies wird nun sukzessive korrigiert. Gut vorstellbar, dass der S&P 500 nun jahrelang in einer Bandbreite von 3.000 bis 5.000 Punkten schwankt, ohne dass es einen Ausbruch nach oben oder unten geben wird.

Auch fundamental lässt sich erklären, dass eine Phase der Stagnation vor uns liegt. In den vergangenen Jahren haben die Notenbanken jede Krise mit Geld gelöst, was aufgrund der niedrigen Inflation kein Thema war. Das ist nun anders. Die Inflation wird aufgrund der Exzesse der Vergangenheit wahrscheinlich hartnäckiger sein als wir derzeit erwarten. Dies wird die Notenbank daran hindern, zur Krisenlösung zukünftig immer mehr Geld in das System zu geben. Ohne den „Notenbank-Put“ werden die kommenden Jahre für uns Anleger schwieriger. Es wird weiter gute Unternehmen mit langfristig steigenden Aktienkursen geben, aber die Herausforderungen nehmen zu. Wie in den 1970er Jahren könnte es von Vorteil sein, den Fokus auf Dividendenerträge zu legen. In diesem Jahrzehnt standen Dividenden für etwa zwei Drittel der Gesamtrendite des S&P 500, während im historischen Schnitt nur etwa knapp ein Drittel auf sie entfiel.