AUSBLICK – „Schreckgespenst“ Stagflation

Auszug aus Mandantenbrief 4/2021

„Oktober, das ist ein besonders gefährlicher Monat, um an den Aktienmärkten zu spekulieren. Die anderen sind Juli, Januar, September, April, November, Mai, März, Juni, Dezember, August und Februar.“

Mark Twain

Als Stagflation wird ein wirtschaftliches Umfeld bezeichnet, das von hoher Inflation und gleichzeitig wirtschaftlicher Stagnation geprägt ist. In den letzten Wochen hat die Sorge der Börsianer vor einem solchen Szenario deutlich zugenommen, da das aktuell noch hohe Wirtschafts-wachstum möglicherweise durch sich verschärfende Engpässe bei Lieferketten, steigende Zinssorgen, explodierende Energiepreise und eine Insolvenz chinesischer Immobilienfirmen wie Evergrande in sich zusammenfallen könnte.

Eine Stagflation war historisch „Gift“ für die Aktienmärkte. Nach Berechnungen von Goldman Sachs hat der S&P 500 seit 1960 in „normalen“ Quartalen + 2,5 % zulegt. In Quartalen mit einem schwachen Wirtschaftswachstum war die Performance mit – 0,5 % negativ. Ebenso fiel die Wertentwicklung in Quartalen mit hoher Inflation mit – 0,6 % enttäuschend aus. Trafen beide Faktoren zusammen – Stagflation (hohe Inflation und schwaches Wachstum) –, dann errechnete sich sogar eine Quartalsperformance von – 2,1 % im Durchschnitt.

Historisch gab es nach dem zweiten Weltkrieg zwei Phasen mit (sehr) hoher Inflation – die 1940er Jahre und die 1970er Jahre, allerdings reagierten die Zentralbanken unterschiedlich. In den 1970er Jahren (Stagflation) versuchten die Zentralbanken die Inflation mittels Zinser-höhungen zu bekämpfen. Das Ergebnis war eine lange Phase der Seitwärtsbewegung an den Aktienmärkten (nominal). Unter Berücksichtigung der Inflation erlitten auch Aktienbesitzer in dieser Wertverluste (real). In den 1940er Jahren haben die Zentralbanken hingegen die Bekämpfung der Inflation kriegsbedingt verweigert. Die Aktienmärkte entwickelten sich besser als in den 1970er Jahren, haben aber immer wieder auf Inflationszyklen reagiert. In den Jahren 1946 / 1947 gab es sogar einen ausgeprägten Bärenmarkt ohne V-förmige Erholung, wie wir es in den letzten Jahren stets gewohnt waren.

Zu klären ist im Zusammenhang mit hoher Inflation auch, was der von den Notenbanken benutzte Ausdruck „vor-übergehend“ bedeutet. Gegenwärtig herrscht hier im Markt die Vorstellung von vielleicht 6 bis 9 Monaten vor. In den 1940er Jahren wurde die Inflation zwar ohne Zinserhöhung „gebrochen“, aber der „vorübergehende“ Zeitraum umfasste hier etwa 2,5 Jahre und nicht nur wenige Monate. Zudem fiel der Bärenmarkt in den 1940er Jahren mit der Periode hoher Inflation zusammen.

Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass historisch betrachtet eine hohe Inflation schlecht für die Aktienmärkte war, auch wenn sie nicht restriktiv in Form von Zinserhöhungen von den Notenbanken bekämpft wurde. Damit lässt sich grundsätzlich ableiten, dass die Aktienmarktrenditen in der Dekade bis 2030 vermutlich niedriger als in der zurück-liegenden Dekade von 2010 bis 2020 ausfallen werden. Die Notenbanken mussten in der zurückliegenden Dekade für ihre laxe Geldpolitik keinen Preis zahlen. Dies dürfte nun in einem Umfeld mit strukturell steigender Inflation anders werden. Als kritische Marke für die Aktienmärkte gilt eine Inflation von nachhaltig über 3 % p.a.

Aufgrund der Verschuldungssituation der Staaten gilt ein 1940er Jahre-Szenario als wahrscheinlicher. Dies verspricht weiter positive Aktienrenditen, allerdings müssen dem Risikomanagement und der taktischen Asset Allokation eine wesentlich größere Bedeutung als in der vergangenen Dekade zugesprochen werden.

Ein „eher“ 1940er Jahre-Szenario dürfte nicht bedeuten, dass die Zentralbanken dieses Mal die Inflationsbekämpfung komplett verweigern. Eine Beendigung der Anleihekäufe und eine moderate Erhöhung der Zinsen ist perspektivisch durchaus wahrscheinlich. Aufgrund der hohen Verschuldung dürften die Zinserhöhungen aber gemächlicher erfolgen und niedriger ausfallen, als es die Situation eigentlich erfordern würde. Vor allem unprofitable Growth-Aktien dürften unter diesem restriktiveren Liquiditätsumfeld leiden, während zyklische Titel bzw. Value-Werte eher zu den Gewinnern zählen werden. Die nachfolgende Grafik zeigt, dass hier relativ betrachtet viel Aufhol- bzw. Abwärtspotenzial gegeben ist.

Kurzfristig – mit Blick auf das 4. Quartal 2021 – präferieren wir das Bild eines „mid cycle slowdown“, d.h. wir glauben nicht, dass Evergrande ein zweites Lehman wird und dass das Wirtschaftswachstum zum Erliegen kommt oder sogar eine rezessive Phase beginnt. Das Schreckgespenst der Stagflation dürfte zunächst wieder verschwinden. Nach einer zwischenzeitlichen wirtschaftlichen Abkühlung sollte das Wirtschaftswachstum im nächsten Jahr wieder Fahrt aufnehmen, wenn sich die Angebotsengpässe nach und nach auflösen und die Inflation zunächst wieder in Richtung 2 % tendiert, was dann vorläufig die größten Zinssorgen beschwichtigen sollte.

Trotz beginnendem Tapering seitens der Notenbanken bleibt die Liquiditätsunterstützung für die Aktienmärkte (noch) groß. In der Vergangenheit hat es sich ausgezahlt, in solchen Phasen im Aktienmarkt investiert zu bleiben. Mit dieser einfachen Strategie konnte der Gesamtmarkt rückblickend nach Berechnungen des Finanzanalysten Clemens Schmale deutlich geschlagen werden. Korrekturen sind jederzeit möglich, aber eine längere stärkere Abwärtsbewegung eher nicht.

Ebenso sprechen historisch steigende Unternehmens-gewinne dafür, dass größere Rückschläge am Markt aus-bleiben. Derzeit erwarten die Analysten auf Sicht der kommenden zwei Jahre weiter steigende Unternehmens-gewinne.

Mit Beginn des 4. Quartals spricht ebenso die Saisonalität für ein freundliches Aktienmarktumfeld. Der Fondsmanager Acatis hat hierzu jüngst eine Auswertung vorgelegt, nach welcher weitere Zugewinne im S&P 500 wahrscheinlich sind, wenn dieser zuvor seit Jahresanfang bis August um mindestens 15 % zugelegt hat. Unter Berücksichtigung der zwischenzeitlichen Korrekturen im September lässt sich daraus für das 4. Quartal ein potentieller Zugewinn im Bereich von 5 % bis 10 % ableiten.

Da zudem in einem inflationären Umfeld mit tendenziell steigenden Zinsen zyklische Aktien regelmäßig besser performen, wäre es nicht überraschend, wenn die europäischen Aktienmärkte mit Blick auf die nächsten zwei bis drei Quartale die Nase vor den US-Märkten hätten.